Kritik: Kontrollverlust

von Felix Hoppstock

Keine Kontrolle und ein Verlust

Viele Kaufbeurer waren auf Southside. Das ist eines der größten Musikfestivals Deutschlands. Zehntausende Jugendliche sangen und feierten dort tagelang im Schlamm ihre Musik und ihr Leben. Meine Schwester und  ihre Freundinnen, die gerade  ihr Abitur bestanden hatten, machten sich auch voller Vorfreude auf den Weg dorthin. Freiheit, Exzess, Party und mehr als ausreichend Dosenbier und Tetra-Pack-Wein– ein Kontrollverlust war vorprogrammiert!

Für einen Kontrollverlust der anderen Art- oder irgendwie auch nicht, hätte man auch in Kaufbeuren bleiben können. In der (bis auf Publikum und Schauspieler) leeren Fabrikhalle Kulturwerkstatt kamen ebenfalls junge Erwachsene zusammen,  um „den Abschied ihrer Jugend“ zu feiern. Es gibt einen verhängnisvollen Unterschied zum Musikfestival – die Musikanlage kommt nicht an und bleibt auch den ganzen Theaterabend über aus.

Auch dem Rezipienten wird klar: Ohne Musik gibt es keine gute Party. Ohne Musik gibt es keine normale Party. Ohne Musik gibt es etwas anderes. Zum Beispiel ein Spiel gegen die Langeweile. Und alle spielen mit. Das Spielende macht alle zu Verlierern.

Die Mitspieler: Er, Sie, Jemand, Jemand Anderes, Der, die Eine, der Andere, Alle:
Die Eine ist schwanger von dem Anderen, der es nicht weiß und zufällig von der Nächsten mitgebracht wird, die aber viel älter und cooler ist, als alle, die unbedingt Musik wollen. Dann gibt’s da noch Den, der auf Die steht. Er versucht‘s, Sie blockt ab. Dann versucht’s `ne Wiederandere  bei der Coolen und Alten , die aber abblockt. Jemand macht die Schwester von Jemandem an, von einem Beschützerjemand. Die Eine tritt ins Fettnäpfchen, die Anderen später in Sie. Ganz ehrlich, unsere Partygemeinde klingt nicht unbedingt nach Spaß und Gewinnern. Nach „Abschied der Jugend“ vielleicht schon eher.

Sie verlieren während des Abends Lara. Lara ist, wie eigentlich immer, auch dabei, ohne mit jemandem so richtig befreundet zu sein. Bei Wahrheit, Pflicht oder  Konsum muss Sie ein Getränk zu sich nehmen. Doch wie gesagt, es ist nun mal ein Spiel und jeder will mitspielen, keiner aussteigen.  Spielende offen. Das Narkotikum führt zur Bewusstlosigkeit des Mädchens. Wie im Brettspiel schlägt man sich. Erlaubt ist aber auch Bemalen, Anschreien und Bespucken. Aussetzen ist verboten. Es scheint Spaß zu machen. Hat was von Therapie. Fast schon verwunderlich, dass es nicht zu einer Vergewaltigung kommt. Aber braucht es vielleicht auch nicht. Die (Schau)spieler stellen auch so eine schockierende  Atmosphäre  her. Kein Zuschauer lacht. Aus einfachen Teenager-Problemen werden Ernsthafte. Die Gruppendynamik ist nicht mehr zu stoppen. Es wirkt so weit hergeholt und doch so nah, dass es einem schaudert. Aber es öffnet auch die Augen und zeigt, dass es eben nicht gut ist, blind überall mitzumachen. Vielleicht hilft dieses Stück auch als eine Art Prävention, es nicht so weit kommen zu lassen. Es gab die Möglichkeit auszusteigen. Hätten Sie es gewollt…

Die Verlierer müssen aufräumen. Lara die Treppe runter zu schmeißen und es wie einen Unfall aussehen zu lassen, scheint nicht die perfekte Lösung zu sein. Aber es dürfen ja auch die Eltern nicht rausbekommen… Sie brauchen einen Schuldigen. Wer hat Schuld?

Sie wissen mittlerweile die einzig richtige Antwort.

Es gibt Tage an denen man das Theater mit einem Lächeln verlässt. Heute war nicht so einer. Aber das ist ok. In einer Premiere waren wie immer viele Eltern im Publikum, die Ihre Spieler danach in den Arm nahmen. Beeindruckt auf der einen Seite von der emotionalen Art und Weise wie sie das Stück auf die Bühne gebracht haben, auf der anderen Seite einfach nur froh, ihre kleinen Schätze wieder in den Händen zu halten. Und ich habe meine Mutter erwischt. Sie hat meine Schwester auf dem Festival angerufen. Aber nur die Mailbox.

Ein Stück welches fasziniert und nicht nur ein einfaches Jugendstück darstellt. Es steckt mehr dahinter. „Jede achte Klasse sollte sich diese Vorstellung anschauen.“, sagte einer der Zuschauer danach. „Hiermit kann man ja sogar erklären, wie es zum zweiten Weltkrieg gekommen ist!“ Auch wenn einzelne pathetische Textstellen es versuchen, ist es kein Belehrungsstück, sondern ein „Muss-Ich-Sehen-Stück“ .

Einen großen Respekt an die Schauspieler und die Regisseure, die sich an den Stoff getraut haben, trotz einer Brutalität, die sehr realistisch gezeigt werden muss. Was gibt es besseres als geflashte Zuschauer, die sich auch nach der Vorstellung noch über das Gesehene Gedanken machen?

Meine Schwester hat übrigens am nächsten Tag zurückgerufen und ist mittlerweile wieder zu Hause. Sie hatte viel zu erzählen. Tolle Geschichten. Von einem Kontrollverlust hatte sie keine. Die hatten wir.

Felix Hoppstock

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