Der lange Weg zum Nordkap – und zu sich selbst

Allgäuer Zeitung 20.10.2022 - Kritik zur Premieren-Aufführung von "Stechmückensommer" der Kulturwerkstatt Kaufbeuren am 15.10.2022 - von Beate Güther

Auf eine gemeinsame Reise gehen Vincent (Manuel Dreisbach, vorne), Madeleine (Arsema Berhe Habitselassa) und Juli (Jan-Luca Ansorge) im neuen Kulturwerkstatt-Stück. Foto: Mathias Wild

Mit „Stechmückensommer“ zeigt die Kulturwerkstatt ein berührendes Bühnen-Roadmovie. Was ein ungleiches Trio dabei erlebt.

„Made“ wird Madeleine genannt, weil sie so dick ist, und gleichzeitig irgendwie unsichtbar. Weil sie eben anders ist als ihre schlanken und sportlichen Klassenkameraden. Deshalb hat sie auch absolut keine Lust auf das Ferienlager in Schweden, für das sie ihre Eltern angemeldet haben. Doch dort gerät Madeleine (Arsema Berhe Habitselassa) unerwartet in ein Abenteuer der ganz besonderen Art. Davon erzählt das neue Stück „Stechmückensommer“ der Kulturwerkstatt Kaufbeuren, das im Theater Schauburg Premiere feierte.

Bei einem Ausflug in ein Bergwerk lässt sich Madeleine zurückfallen und wacht in einer zunächst verstörenden Situation wieder auf. Sie lernt den völlig durchgeknallten Punker Juli (Jan-Luca Ansorge) kennen. Madeleine fällt ein, dass sie auf dem Weg den Begriff „Lore“ gehört hat und diesen so schön fand, dass sie sich fortan Lore nannte. Als Lore hat sie aber auch eine ganz andere Sichtweise auf die Dinge, als Lore traut sie sich mehr. Juli lädt sie zu einer Busfahrt ein, sie genießt die Situation zunehmend. Und doch stellen sich Fragen über Fragen. Warum will der Junge unbedingt zum Nordkap? Warum ist sein Opa gestorben? Warum hat er ihm das Autofahren beigebracht? Nach dem Stopp auf einem Campingplatz haben sie einen weiteren Passagier an Bord: Vincent (Manuel Dreisbach) hat das Down-Syndrom und Juli ist alles andere als begeistert, dass der „Mongo“ jetzt mitfahren will. Schnell stellt sich aber heraus, dass Vincent über ungeahnte Fähigkeiten und Kenntnisse verfügt, von denen nicht nur Juli, sondern auch Madeleine profitieren können. Ebenso stellt sich im weiteren Verlauf heraus, dass der ach so coole Juli ein großes Geheimnis hat.

Unter der Regie von Nadja Ostertag haben die jugendlichen Schauspieler der Kulturwerkstatt wieder einmal für einen unvergesslichen Abend gesorgt. Die spannungsvolle Inszenierung, ein digitales Bühnenbild von Alex Schneider und Maurice Ensinger und die schauspielerischen Leistungen der Akteure ließen beim Publikum immer wieder den Atem stocken, sorgten aber auch für Heiterkeit. Zum Ende stellt sich Madeleine sogar ihrer größten Angst und überwindet sie mit der Hilfe ihrer neuen Freunde. Es bleibt die klare Botschaft, dass es nicht darauf ankommt, perfekt zu sein, sondern dass die Menschlichkeit und die Empathie, die auch der „Fremde“ am See empfindet, zählen. Dafür gab es tosenden Schlussapplaus und Jubelrufe.

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Allgäuer Zeitung 20.10.2022 - Kritik "Stechmückensommer" - "Der lange Weg zum Nordkap – und zu sich selbst"